Deutschland versucht krampfhaft eine Vorreiterrolle der Digitalisierung anzunehmen- tatsächlich hängen wir jedoch bei sehr vielen Themen hinterher…
Seit 2011 sind die Schlagworte „Industrie 4.0“, „Digitalisierung“ und „smart factory“ ein fester Bestandteil der deutschen Medien- es vergeht kein einziger Tag, ohne dass eine Tageszeitung, ein Polittalk oder ein Nachrichtenmagazin über dieses Thema redaktionell berichtet.
Was tut sich aber wirklich in der deutschen Industrie und vor allem im Mittelstand, dem Treiber unserer deutschen Produktion? Wo haben über eindrucksvolle „Leuchttürme“ hinaus wirklich smarte Lösungen den Einzug in die tägliche Arbeit geschafft?
Was wir wirklich gut können: abwarten
Vielleicht ist es eine deutsche Tugend, vielleicht ist es für einige der richtige Weg- was wir wirklich gut können ist abwarten: Wir warten auf Standardisierungen von Schnittstellen und Protokollen, wir warten darauf, dass Maschinenhersteller neue Anlagen im Standard vernetzbar machen und wir warten sehnsüchtig darauf, dass uns die Telekommunikationsbetreiber an schnelles Internet anbinden, hier ist inzwischen Gigabit gefordert- Megabitverkabelung wird nicht mehr ausreichen. Somit sind die Verursacher der etwas hinkenden Digitalisierung schnell gefunden- zum Glück, denn dies macht es uns deutlich einfacher eine Begründung zu finden, warum wir diese hervorragenden Möglichkeiten der Effizienz und Optimierung noch nicht nutzen.
Wir sind es in vielen Bereichen gewohnt, auf fertige Lösungen zurückgreifen zu können, wir wollen universelle Produkte beschaffen, die sich einfach und schnell integrieren lassen. Nach Möglichkeit möchten wir ein eigens vorbereitetes Lastenheft mit verfügbaren Produkten vergleichen lassen. Das Thema „Digitalisierung“ ist jedoch deutlich komplexer, da es mehr ist als die Einführung neuer Software oder technischen Lösungen- es ist ein umfängliches Umdenken im Unternehmen notwendig- eine Aufgabe, die sich nicht „out of the box“ beschaffen lässt. Bestehende Handlungen müssen überdacht werden, bestehende Tätigkeiten sollten kritisch hinterfragt werden.
„Ohne schnelles Internet und 5G brauchen wir nicht anzufangen“
Die heute verfügbaren Lösungen sind keineswegs abhängig von der schnellen Anbindung an das Internet und 5G wird keine Universallösung für die Digitalisierung der deutschen Wirtschaft und Industrie sein. Es wird in absehbarer Zukunft keine flächendeckende Verfügbarkeit des neuen 5G-Netzes geben! Anders als bei dem 4G-Netz ist die Frequenz für hohe Bandbreiten ausgelegt, jedoch nicht für hohe Reichweiten- dies bedeutet, dass wir für die Abdeckung deutlich mehr Antennenstandorte benötigen, als die bislang bestehenden. Eine großflächige Abdeckung würde also bedeuten, dass viele tausend zusätzliche Sendemasten platziert werden müssen.
Aus der Erfahrung des letzten Jahrzehnts wissen wir, dass die Aufstellung eines neuen Sendemasten zwischen 2 und 4 Jahre dauert- dies liegt zum einen am Genehmigungsverfahren und zum anderen an Gegenbewegungen, Klagen und Protesten der betroffenen Anwohner. Gehen wir jetzt davon aus, dass für eine Vollabdeckung kurzfristig viele 10.000 weitere Sendemasten benötigt werden, sollte jedem klar sein, dass dies zur Zeit eine Utopie ist.
Zusätzlich zu dieser Einschränkung und der bevorstehenden Mammutaufgabe für die Mobilfunkbetreiber kommt hinzu, dass die Versteigerung der neuen Frequenzen durch die Bundesnetzagentur darauf ausgelegt ist, einen höchstmöglichen Ersteigerungsbetrag zu erwirtschaften. Gehen wir davon aus, dass die geplanten 12 Milliarden Euro tatsächlich erreicht werden, wird diese Summe den gewinnenden Bietern beim Netzausbau fehlen und somit kontraproduktiv sein.
Ich bin mir jedoch sicher, dass diese Erkenntnis nicht dazu führen muss, dass wir weiterhin abwarten müssen- nahezu alle derzeit erdachten und bereits umgesetzten Lösungen sind, ggf. mit kleineren Anpassungen, auch ohne diese schnelle Mobilfunknetz vollumfänglich nutzbar. Es geht im Bereich der Industrie 4.0 und dem Lean-Management um deutlich mehr als die Nutzung digitaler Lösungen. Organisatorische Neugestaltungen der Produktion in Verbindung mit der digitalen Überwachung und Steuerung der Wertschöpfungskette sind auch ohne die wünschenswerte, schnelle Breitbandanbindung möglich. Ich unterstütze trotzdem die Forderung nach schnellem stationären und mobilem Internet. Schaut man sich den globalen Vergleich an, steht Deutschland ganz bestimmt nicht gut da und ggf. lässt sich hieraus auch ein neuer Benchmark für allgemeine Innovationskraft ableiten. Wir müssen an dieser Thematik arbeiten- und ich bin mir sicher, dass Vordenkern wie Timotheus Höttges, Vorstandsvorsitzender der Deutschen Telekom, dieses auch bewusst ist.
Rechtliche Grundlagen und Normen
Aus meiner Sicht deutlich schwerwiegendere Standortfaktoren sind die deutschen Gesetze und Normen, die derzeit das notwendige Umdenken sowie die Einführung moderner Technologien erschweren. Die Bereiche kollaborative Robotik, das autonome Fahren, die systematische Erfassung auch persönlicher Daten sowie die Speicherung relevanter Informationen auf cloudbasierten Servern ist deutlich gesetzlich eingeschränkt. Diese Gesetze und Normen müssen angepasst werden. Unternehmen müssen beispielsweise in der Lage sein, Cobots so einzusetzen, dass sie produktiv in Zusammenarbeit mit den menschlichen Werkern arbeiten können. Die bislang gültigen Maschinenrichtlinien müssen dies zweifelsfrei ermöglichen.
Anders als bisher geht es hier nicht mehr um tonnenschwere Industrieroboter- hier geht es um Leichtbauroboter mit Payloads zwischen 3 und 10 Kilogramm. Andere, von uns nahezu täglich verwendete Werkzeuge wie Winkelschleifer, Kettensägen oder Kreissägen bieten ein deutlich höheres Unfall- und Verletzungsrisiko, die für die Cobots angesetzen Maßstäbe sind jedoch wesentlich strenger. Wir müssen uns gedanklich und praktisch davon verabschieden, dass kleinere Roboter hinter Zäune und Lichtschranken müssen, dass der Roboter vor dem Menschen und der Mensch vor dem Roboter geschützt werden muss.
Wir brauchen die Robotik dringender als viele andere Länder dieser Erde
Die demografische Entwicklung in Deutschland zeigt unmissverständlich auf, dass wir in den kommenden 25 Jahren mit immer größer werdenden Problemen im Bereich der Besetzung unserer Planstellen zu kämpfen haben werden. Es werden uns nicht nur Facharbeiter und Spezialisten fehlen- unser Mittelstand und unsere Industrie wird es generell schwer haben, die dringend erforderlichen Arbeitskräfte zu finden. Viele dieser Aufgaben können schon heute durch Roboter übernommen werden-ohne dass wir Personal abbauen müssen und dies zu einer neuen Welle der Arbeitslosigkeit führen wird. Keine technische, industriell eingestetzte Entwicklung der letzten 100 Jahre hat Deutschland geschadet oder zu erhöhter Arbeitslosigkeit geführt- weder die Eisenbahn noch das Computerzeitalter. Wir erinnern uns nicht an die große Arbeitslosigkeit der Kutscher und haben auch keine Bilder von massenhaft entlassenen Telex-Mitarbeitern im Gedächtnis.
Wir wollen keinen neuen Red-Flag-Act
Aktuell befinden wir uns in einer sehr spannenden Zeit: immer schneller entwickeln sich neue Technologien und so schnell wie nie zuvor sind diese Technologien und das Wissen einfach zugänglich und nutzbar.
Die Einführung und die Nutzung dieser darf jedoch nicht unnötig ausgebremst oder reglementiert werden. Es darf keinen neuen „Red-Flag-Act“ geben, der in England Ende des 19. Jahrhunderts dazu führte, dass vor jedem der damals aufkommenden ersten Autos ein Mensch herlaufen musste, der mit einer roten Flagge andere Spaziergänger warnte. Sollten wir unsere neuen Technologien jetzt auch auf „Schrittgeschwindigkeit“ abbremsen, werden wir nicht den dringend benötigten Technologievorsprung nutzen können.
Kann Deutschland aufholen?
Es gibt keinen universellen Masterplan! Es gibt keine universell einsetzbaren Lösungen, die vollumfänglich dazu führen, dass wir das Maximale an Effizienz und Optimierung erreichen.
In sehr vielen Bereichen haben uns andere Länder schnell überholt, einige dieser bereits verloren geglaubten Domänen versuchen wir jetzt zurück zu erobern. Themen wie das mobile payment, einige Bereiche der künstlichen Intelligenz inklusive des so wichtigen Maschinellen Lernens stehen schon seit vielen Jahren auf den Prioritätenlisten anderen Staaten- mit großen Erfolgen. Trotzdem ist es ratsam hier an Fahrt zu gewinnen und eigene Entwicklungen „made in germany“ voranzutreiben. Wir selbst sind die Kundengruppe, die diese Technologien dringend benötigt.